Interview mit dem Tagesspiegel
Staatsministerin Elisabeth Kaiser spricht im Interview über die Ziele der Bundesregierung, Frauen in der Politik und die Situation in Ostdeutschland.

Staatsministerin Elisabeth Kaiser im Gespräch
Foto: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Frau Kaiser, Sie sind hochschwanger und erwarten Ihr zweites Kind. Gleichzeitig treten Sie ein wichtiges Amt in der neuen Bundesregierung an.
Ja, das eine schließt das andere nicht aus! Den richtigen Zeitpunkt, ein Kind zu bekommen, wenn man politisch aktiv ist oder im Berufsleben steht, gibt es nicht. Natürlich ist es eine Herausforderung, kurz vor der Geburt ein solches Amt übernehmen zu dürfen. Bei der Entscheidung für mich hat meine Schwangerschaft keine Rolle gespielt. Das ist ein gutes Signal. Es zeigt, dass wir in einer modernen Gesellschaft leben, in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelebt wird.
Wie werden Sie es konkret vereinbaren?
Mein Mann wird die Elternzeit übernehmen. Ich werde, sofern es dem Kind und mir gut geht, nach dem Mutterschutz gleich wieder einsteigen. Das ist direkt nach der Sommerpause. Dabei wird mich die ganze Familie unterstützen, wofür ich dankbar bin. Später hilft die Kitabetreuung.
Die frühere SPD-Bauministerin Klara Geywitz hat im Potsdamer Landtag auf die Frage, wo denn ihre Zwillingsbabys seien, geantwortet: „Die sitzen im Auto und passen auf den Hund auf.“ Haben Sie sich schon eine solche Aussage überlegt?
Ich finde es in Ordnung, wenn gefragt wird: Wie machen Sie das denn? Die ersten Mütter, die im Bundestag ihr Kind dabeihatten, wurden noch viel kritischer bewertet. Aber auch ich bekomme Briefe, in denen mir Leute mitteilen, dass die Mutter-Kind-Bindung doch sehr wichtig sei.
Was antworten Sie dann?
Natürlich spielen Mütter für Neugeborene eine besondere Rolle. Aber das heißt ja nicht, dass es nicht gut funktionieren kann, wenn der Vater mehr Verantwortung übernimmt. Ein Baby ist kein Hindernis für ein wichtiges Regierungsamt – das kann ich allen versichern.
Haben Sie Sorge, dass Sie sich bei aller Vereinbarkeit auch zerrissen fühlen wie so viele arbeitende Mütter?
Es gibt sehr viele Rollenbilder, denen Frauen gerecht werden sollen: die fürsorgliche Mutter, die alle Zeit und Aufmerksamkeit ihren Kindern widmet. Und die Karrierefrau, die Emanzipation lebt. Dass man nicht jeder Rolle, die einer arbeitenden Mutter auferlegt wird, hundertprozentig gerecht werden kann, muss man für sich klar haben. Ansonsten macht man sich kaputt.
Bekommen Sie unterschiedliche Reaktionen aus Ost und West?
In der DDR sind die Frauen motiviert worden, schnell wieder arbeiten zu gehen. Dafür gab es eine umfassende Kinderbetreuung. Dass die meisten Frauen dann trotzdem zu Hause die Care-Arbeit geleistet haben, wird selten erwähnt. Ich habe es bei meiner Mutter erlebt, die nachts gekocht hat, damit wir die Woche über zu essen hatten, wenn sie als Vollzeitjournalistin unterwegs war. Bis heute ist es im Osten selbstverständlicher, dass Frauen Vollzeit arbeiten, selbst wenn sie kleine Kinder haben. In Westdeutschland hat sich da schon viel verändert. Aber es mangelt oft noch an guten Betreuungsstrukturen.
Den Unterschieden zwischen Ost und West ist letztlich Ihr Amt geschuldet. Was haben Sie vor als neue Ostbeauftragte – was wollen Sie für den Osten erreichen, und was für den Westen?
In den ostdeutschen Bundesländern gibt es nach wie vor strukturelle Defizite. Das unternehmerische Kapital ist nicht so ausgeprägt, die Löhne sind niedriger, die Tarifbindung ist schwächer. Das wirkt sich auf die Einkommen aus und ein Stück weit auf die politische Kultur. Wer weniger Ressourcen hat, kann in schwierigen Zeiten anfälliger sein für Populismus. Diese ökonomischen Themen müssen wir ins Zentrum rücken.
Jetzt haben Sie die Zustände beschrieben, aber nicht gesagt, was Sie erreichen wollen.
Es ist das Ziel der neuen Bundesregierung, die Konjunktur zu beleben. Dabei müssen wir besonders Ostdeutschland in den Blick nehmen. Wir investieren 500 Milliarden Euro, um die Wirtschaft anzukurbeln und unsere Infrastruktur zu stärken. Davon muss der Osten angemessen profitieren. Die Region hat sich in den vergangenen Jahren gut entwickelt, auch durch Unternehmensansiedlungen dank erneuerbarer Energien und einer industriefreundlichen Bevölkerung. Darauf lässt sich aufbauen.
Das Sondervermögen soll aber nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt werden. Das heißt, es bekommen die Regionen viel Geld, die viele Einwohner und viel Wirtschaftskraft haben. Der Osten bekäme wenig ab.
Die Entscheidung für den Königsteiner Schlüssel wurde einvernehmlich im Länderkreis getroffen und war sicher der kleinste gemeinsame Nenner. Die Bundesregierung hat sich schon seit ein paar Jahren von der Förderung nach Himmelsrichtung verabschiedet und ein gesamtdeutsches Fördersystem geschaffen, dass sich erfolgreich an Strukturindikatoren orientiert, wie der Gleichwertigkeitsbericht zeigt. Die Strukturschwäche ist in Ostdeutschland aber immer noch fast flächendeckend ausgeprägt und das muss künftig auch noch stärker berücksichtigt werden.
Vor der Bundestagswahl hat die CDU gefordert, Ihr Amt generell abzuschaffen. Nun ist es nicht mehr im Kanzleramt angesiedelt, sondern beim Finanzminister. Ist das eine Degradierung des Ostens?
Es ist wichtig für den Osten, am Kabinettstisch eine Stimme zu haben, und das ist weiterhin der Fall. Für die Verteilung der Investitionsmittel ist es sogar gut, im Finanzministerium eingebunden zu sein. Natürlich arbeite ich als Ostbeauftragte letztlich an der Abschaffung meines Amts. Aber noch gibt es viel aufzuholen. Das Gefühl des Abgehängtseins in der ostdeutschen Bevölkerung müssen wir alle ernst nehmen. Am Ende ist Deutschland nur stark, wenn es allen Teilen des Lands gut geht.
Sie haben das Gefühl selbst erlebt in Ihrer Heimatstadt. Gera war einer der Verliererstädte des Umbruchs, während Jena und Weimar nebenan groß rauskamen. Welche Erfahrungen nehmen Sie in Ihr Amt mit?
Bei der friedlichen Revolution war ich erst zwei Jahre alt. Aber natürlich haben die Umbrüche die Generation meiner Eltern getroffen. Es gab Arbeitslosigkeit, viele Umschulungen, um wieder Fuß zu fassen. Das hat auch die Kinder geprägt. Gera war Industrie-, Textil- und Chemie-Standort, eine Bergbau-Region. Als die Kombinate zumachten, zogen viele weg, selbst meine Schule wurde geschlossen. Jetzt ist Gera vor allem Dienstleistungsregion und Standort von Logistikfirmen mit entsprechend niedrigen Löhnen. Die Region hat Verlust erfahren und Enttäuschungen, die sich über Generationen vererben.
Nicht nur in Gera kippen Enttäuschung und Wut teilweise in Ostalgie um. Wie erklären Sie sich das?
Es ist ja nicht falsch, dass es in der DDR sinnvolle Strukturen gab wie die Kinderbetreuung oder die Polikliniken. Und die Kulturhäuser waren ein Kitt für die Gesellschaft. Wichtig ist deshalb, zu unterscheiden zwischen einer Ostalgie, die die DDR verklärt – und einer positiven Identität mit dem Bewusstsein, dass die Umbruchserfahrung für die Zukunft nützlich sein kann. Gerade wenn junge Menschen für die DDR schwärmen, finde ich das fragwürdig. Wir dürfen nicht vergessen, welche Freiheiten wir alle jetzt dank der Wiedervereinigung genießen. Gerade die Älteren können viel von den Schattenseiten der DDR berichten, von gelenkten Biografien, Überwachung und Freiheitsentzug. Davon kann die junge Generation viel lernen. Diesen Austausch zwischen Jung und Alt brauchen wir.
Die AfD ist im Osten fast überall stärkste Kraft. Spricht daraus Enttäuschung oder schon Radikalisierung?
Ein Großteil auch der jungen Leute macht sich Sorgen um die Zukunft. Viele Elternhäuser im Osten bringen nicht die Ressourcen mit, um zu sagen: Du hast eine gute Bildung und wir haben Rücklagen, mach dir mal keine Sorgen. Die Ungewissheit macht etwas mit den Menschen. Allen Studien zufolge sind sie dann anfälliger für Populismus und Propaganda, gerade aus rechtsextremen Kreisen. Wir können also viel erreichen, wenn wir die Lebensumstände verändern. Aber wir dürfen nicht unterschätzen, dass sich ein Teil der Bevölkerung schon jetzt radikalisiert hat. Das passiert auch in anderen Ländern und ist kein ostdeutsches Phänomen.
In den Augen vieler zerbröselt die Demokratie. Wie ist das aufzuhalten?
Wir müssen wieder Nähe zur Demokratie herstellen, also Menschen in politischen Positionen als Vorbilder stärken, auch Verständnis wecken für demokratische Institutionen und Prozesse. Das gelingt nur, wenn wir die demokratische Selbstwirksamkeit von jungen Menschen stärken. Dafür müssen wir ihr Engagement vor Ort strukturell fördern, damit neuer Zusammenhalt entsteht. Auch die Mitgliedschaft in Parteien oder Gewerkschaften hilft dabei.
Muss eine gesichert rechtsextremistische Partei wie die AfD, die gerade in Ostdeutschland die Demokratie angreift, verboten werden?
Ein Parteienverbot gehört aus gutem Grund zu den Möglichkeiten, unsere Demokratie zu schützen. Schließlich wurde die Demokratie der Weimarer Republik auch von einer demokratisch gewählten Partei zerstört. Sollte es für ein Verbot die rechtlichen Voraussetzungen geben, darf es auch keine Rolle spielen, wie viele Wähler eine Partei hat. Man sollte aber nicht glauben, dass damit das politische Problem gelöst wäre.
Viele in der CDU sagen, man solle die AfD lieber politisch stellen.
Das sollten wir auch. Die Menschen müssen merken, dass der Staat sich um ihre Anliegen kümmert. Nur mit guter Politik können wir verhindern, dass rechtsextreme Akteure in Regierungsverantwortung gelangen.
Ihr neuer Koalitionspartner hat kurz vor der Wahl eine gemeinsame Abstimmung mit der AfD im Bundestag in Kauf genommen. Wie lange wird es dauern, bis das Vertrauen der SPD in die CDU wieder hergestellt ist?
Wir müssen als Regierung pragmatisch miteinander umgehen. Der gute Wille ist da. Aber es kommt jetzt auf die Landesverbände der CDU gerade im Osten an. Die Brandmauer muss stabil bleiben. Vor Experimenten kann ich in dieser Hinsicht nur warnen. Die AfD würde das nutzen, um Chaos zu stiften.
Zweifeln Sie daran, ob viele Ostdeutsche die selbst erkämpfte Demokratie überhaupt zu schätzen und zu nutzen wissen?
Mit der Friedlichen Revolution 1989 haben sich die Ostdeutschen ihre Freiheit und die Wiedervereinigung selbst erkämpft. Damals gab es eine unglaubliche Politisierung und viele Diskussionen, etwa an den Runden Tischen. Nach 1990 hatten die meisten Menschen in Ostdeutschland erstmal mit ihrem eigenen Alltag zu tun. Erst jetzt kommen viele dazu, das Erreichte auch mal zu reflektieren. Unsere Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, das wissen die Ostdeutschen nur zu gut.
Können Sie die Klagen von Ostdeutschen über die vielen Veränderungen 35 Jahre nach der Einheit noch hören?
Die Umbrüche haben den Menschen viel abverlangt. Das wirkt nach. Die meisten sagen heute, es gehe ihnen persönlich gut. Und dennoch fühlen sich viele als Bürger zweiter Klasse. Dieses Gefühl müssen wir adressieren. Den Westdeutschen sage ich: Natürlich gibt es auch bei euch seit Jahrzehnten einen Strukturwandel mit Verlusterfahrungen. Auch das müssen wir sehr ernst nehmen.
Sie sprechen von „Euch“, wenn Sie die Westdeutschen meinen?
Als Ostbeauftragte vertrete ich nun mal die Interessen des Ostens. Auch im Westen gibt es einen wirtschaftlichen Strukturwandel. Aber im Osten erleben wir darüber hinaus einen beschleunigten politischen und demografischen Wandel. Ich bin noch mit dem Bild vom Besserwessi aufgewachsen. Das Gegenstück dazu ist die Tatsache, dass Ostdeutsche bis heute in Führungsetagen unterrepräsentiert sind. Westdeutsche sehen das oft nicht einmal als Problem.
Frau Kaiser, Sie repräsentieren zwei Gruppen, die in der Spitzenpolitik selten sind: junge Frauen und Ostdeutsche. Sie haben einmal gesagt, als junge Frau sei man in der Politik exotisch.
In der SPD ist es seit längerem gelungen, dass mehr junge Frauen in Verantwortung kommen. Das finde ich gut, denn nur mit vielfältigen Perspektiven können wir als Partei erfolgreich sein. Das gilt neben Frauen und Ostdeutschen auch für Menschen mit Migrationserfahrung und für diejenigen ohne Abitur und Studium.
Beim Rückzug von Parteichefin Saskia Esken ist der SPD die Frage, wie sie mit Frauen umgeht, gerade ziemlich um die Ohren geflogen.
Auch ich fand sehr kritikwürdig, wie die Debatte um sie geführt wurde. Die SPD muss das aufarbeiten. Andererseits sehe ich, dass andere, gerade junge Frauen jetzt Verantwortung übernommen haben. Das ist auch ihr Verdienst. Dennoch sind die Netzwerke unter Männern in der Politik immer noch deutlich stärker ausgeprägt.
Saskia Esken sagt, die Ansprüche der Öffentlichkeit an Frauen in der Spitzenpolitik seien so widersprüchlich, dass man sie gar nicht alle erfüllen könne.
Das ist so. Man soll nicht zu soft auftreten, aber resolute Frauen werden auch kritisch beäugt. Themen wie gendergerechte Außenpolitik oder gendersensible Stadtentwicklung werden als woker Kram herabgewürdigt, da macht man es sich zu leicht. Dabei geht es einfach darum, die Gesellschaft als Ganzes zu betrachten.
Auch wir haben Sie zuerst nach Ihrer Schwangerschaft gefragt.
Bei Frauen sticht das eben direkt ins Auge. Es gibt auch immer mehr junge Väter im Bundestag, die nach der Geburt ihrer Kinder ein paar Wochen fehlen. Das fällt nur weniger auf.
Das Interview ist am 22. Mai 2025 im Tagesspiegel erschienen.